Erhitzt man feste Materie, so schmilzt sie zunächst und verdampft anschließend. Was aber passiert, wenn man auch die gasförmige Materie immer weiter erhitzt? Nach und nach lösen sich durch das Erhitzen alle Materiestrukturen auf und aus den Molekülen der Materie werden einzelne Atome. Schließlich, bei einer Temperatur von etwa 1012 Kelvin (1.000.000.000.000°C), werden auch die Bestandteile der Atomkerne, die Protonen und Neutronen, aufgeschmolzen und die fundamentalen Bausteine, die Quarks und Gluonen, treten zutage.
Bei dieser hohen Temperatur, die etwa eine Milliarde Mal höher ist als das Innere der Sonne, liegt die Materie in ihrer elementarsten heute vorstellbaren Form vor. Dieser elementare Materiezustand wird vom Standardmodell der Teilchenphysik vorhergesagt und Quark-Gluon-Plasma genannt. Es handelt sich hierbei um ein Plasma aus freien Quarks, die durch den Austausch von Gluonen miteinander wechselwirken. Nach unserem gegenwärtigen Verständnis des frühen Universums wurde unser gesamtes Universum in den ersten Mikrosekunden nach dem Urknall von so einem Quark-Gluon-Plasma ausgefüllt. Um die Eigenschaften dieses Plasmas zu untersuchen und somit die Bedingungen des frühen Universums zu rekonstruieren, werden im größten Beschleunigerring der Welt, dem Large Hadron Collider (LHC), Blei-Atomkerne mit hoher Energie zur Kollision gebracht. Die Atomkerne werden durch die bei der Kollision freigesetzte Energie auf die erforderliche Temperatur aufgeheizt und für kurze Zeit entsteht ein Quark-Gluon-Plasma.
Der Detektor
Ähnlich wie Wasserdampf, der bei Abkühlung in kleine Tröpfchen kondensiert, friert auch das Quark-Gluon-Plasma nach kurzer Zeit aus. Die dabei entstehenden Teilchen können mit dem ALICE-Detektor, einem der vier Großdetektoren am LHC, nachgewiesen werden.
Die besondere Herausforderung bei ALICE besteht darin, dass bei einer einzigen Kollision zweier Blei-Atomkerne viele tausend Teilchen entstehen, die möglichst vollständig vermessen werden müssen. Denn nur durch die präzise Vermessung von möglichst vielen Teilchen und deren Eigenschaften gelingt es den Physiker*innen genauer zu verstehen, welche Prozesse im Plasma stattfinden. Um die verschiedenen Eigenschaften wie z.B. Impuls, Energie und Ladung der Teilchen aufzuzeichnen, wurden mehrere Detektorschichten konzentrisch um den Kollisionspunkt am LHC aufgebaut. Diese Subdetektoren sind rund 26 Meter lang und 16 Meter breit und liegen im Inneren eines gewaltigen Magneten, der über 8000 Tonnen wiegt.
Im Vergleich zu den anderen Großdetektoren ist das ALICE-Experiment besonders gut dafür geeignet, die Teilchenart fast aller Teilchen zu bestimmen. Dies wird durch einen geschickten Einsatz verschiedener physikalischer Prozesse wie etwa dem Cherenkov-Effekt oder der Übergangsstrahlung und der präzisen Messung von physikalischen Größen wie Flugzeit und Energieverlust ermöglicht. ALICE bietet damit einzigartige Bedingungen für die Untersuchung des Quark-Gluon-Plasmas.
Am Aufbau und Betrieb des ALICE-Detektors sowie an der Auswertung der Daten sind rund 2000 Wissenschaftler*innen aus über 40 Ländern beteiligt. Etwa 200 dieser Forschenden kommen aus Deutschland.
Aktuelle Forschungsfragen
Die Entstehung von Quark-Gluon-Plasma bei hohen Temperaturen wurde im Rahmen des Standardmodells als fundamentale Eigenschaft von Materie vorhergesagt und gilt inzwischen als experimentell bestätigt. Das aktuelle Forschungsprogramm von ALICE adressiert daher weitergehende Fragen und untersucht die detaillierten Eigenschaften des Quark-Gluon-Plasmas. Unter anderem wird die Viskosität des Plasmas erforscht, da diese Eigenschaft möglicherweise Einfluss auf die Dynamik des frühen Universums hatte. Darüber hinaus erlauben diese und weitere Messungen, etwa der Diffusionseigenschaften von Quarks im Quark-Gluon Plasma oder der Ordnung des Phasenübergangs zu normaler nuklearer Materie, detaillierte Tests einiger der bisher am wenigsten verstandenen Aspekte des Standardmodells. Dabei handelt es sich um das Verhalten der starken Wechselwirkung zwischen Quarks bei Abständen, bei denen übliche mathematische Methoden nicht mehr anwendbar sind, das aber für das Erscheinungsbild unserer beobachtbaren Welt, wie etwa der Bildung von Protonen, Neutronen und Atomkernen, maßgeblich ist.
Neutronensterne und Suche nach Dunkler Materie
Auch die Frage, ob heute noch Quark-Gluon-Plasma im Inneren von kompakten Objekten wie Neutronensternen existiert, kann mit ALICE adressiert werden. Des Weiteren erlaubt die hohe Sensitivität der einzelnen Subdetektoren einzigartige Studien der Eigenschaften exotischer Teilchen und Materiezustände. Beispielsweise die Wechselwirkung zwischen sogenannten seltsamen Teilchen oder die Bildung von Kernzuständen, die nicht nur Protonen und Neutronen enthalten, können mit ALICE erforscht werden. Solche Teilchen könnten sich ebenfalls im Inneren von Neutronensternen befinden und deren Eigenschaften maßgeblich beeinflussen.
Ein weiteres Beispiel für das breite Forschungsgebiet von ALICE ist die Bestimmung der Absorptionseigenschaften von Antimaterie im intergalaktischen Raum. Die genaue Kenntnis dieser Eigenschaften ist entscheidend bei der Suche nach Dunkler Materie mit extraterrestrischen Experimenten.
Das ALICE-Experiment – Steckbrief
Maße:
- 16 m Höhe, 16 m Breite, 26 m Länge
- > 8000 Tonnen Gewicht
Standort:
- St. Genis, Frankreich, 56 m unter der Erde
Internationale Kollaboration:
- 40 Länder
- 127 Institute
- ~ 2000 Wissenschaftler*innen
Deutsche Beteiligung:
- 10 Institute
- > 200 Wissenschaftler*innen
- > 50 Doktorand*innen
- > 100 abgeschlossene Promotionen
Impressionen aus der ALICE-Kollaboration
BMBF-Forschungsschwerpunkt ALICE
Die Arbeit der deutschen Wissenschaftler*innen in der ALICE-Kollaboration wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) maßgeblich gefördert. Derzeit sind Forschende der Universitäten Bonn, Frankfurt, Heidelberg, München und Münster sowie des Helmholtzzentrums für Schwerionenforschung GSI bei Darmstadt an ALICE beteiligt. Um die Vernetzung der Universitätsgruppen untereinander zu stärken und gemeinsame Maßnahmen zur Nachwuchsförderung, Öffentlichkeitsarbeit und zum Wissenstransfer in die Gesellschaft zu fördern, hat das BMBF den Forschungsschwerpunkt ALICE (FSP ALICE) eingerichtet. Die Sprecherschaft des FSP ALICE liegt derzeit bei der Technischen Universität München.
Die deutschen Forschungsgruppen sind an allen Aspekten des ALICE-Experiments beteiligt. Sie tragen sowohl zur Entwicklung und zum Bau des Detektors als auch zum Betrieb und zur Auswertung der erhobenen Daten entscheidend bei. Herausragende Expertise weisen die deutschen Gruppen insbesondere bei der Entwicklung von Spurdetektoren sowie im Bereich Datenauslese und Online-Computing auf. Die physikalische Interpretation der Ergebnisse wird durch Theoriegruppen aus Bielefeld, Münster und Tübingen unterstützt.
Das Upgrade
Um ein noch detaillierteres Verständnis der grundlegenden Fragen rund um das Quark-Gluon-Plasma zu erlangen, wurde 2012 ein umfassender Umbau des ALICE-Experiments beschlossen. Durch die Umstellung von ereignisbasierter zu kontinuierlicher Auslese soll die Datenaufzeichnung um das Hundertfache gesteigert werden. Mit einem größeren Datensatz erhoffen sich die Wissenschaftler*innen mehr Erkenntnisse über den Urzustand unseres Universum zu erlangen.
Die deutschen Gruppen haben sich umfangreich an diesem Umbau beteiligt, der maßgeblich durch das BMBF gefördert wurde. Die Modernisierung konnte 2022 erfolgreich abgeschlossen werden, sodass seitdem die Messungen am LHC mit erheblich gesteigerten Kollisionsraten weitergeführt werden.
Neben einer erhöhten Strahlungsresistenz des Detektors, die für einen reibungslosen Betrieb bei hohen Kollisionsraten erforderlich ist, besteht eine besondere Herausforderung in der immensen Datenmenge, die nach dem Umbau bei ALICE anfällt. Datenraten von etwa 4 Terabyte pro Sekunde erfordern eine massive parallele Prozessierung in Echtzeit, bevor die Daten auf Massenspeicher geschrieben werden. Hierfür wurden komplexe Großrechnerarchitekturen entwickelt und aufgebaut. Neben konventionellen CPU-Prozessoren kommen dabei hocheffiziente GPU-Prozessoren zum Einsatz, die auch in Grafikkarten Anwendung finden. Diese Rechnerstrukturen sind hoch innovativ und werden auch in anderen Bereichen von Wissenschaft und Wirtschaft zur Anwendung kommen.
Sprecherin des ALICE-Forschungsschwerpunkts
Prof. Dr. Laura Fabbietti
Physik-Department
Technische Universität München (TUM)